Es gibt Orte, die sucht man sich nicht aus, sondern landet dort. Zufällig, weil man zum Beispiel ein Seminar besucht, etwa in der Bundesakademie in Wolfenbüttel. Wolfenbüttel? Nie gehört? – Und wenn schon! Das Stadtmarketing nimmt’s offenbar „lessig“, wie eine Broschüre verheißt, die ich in die Finger bekomme.
„Lessig“? – Nicht mal richtig schreiben können die hier, denke ich, als mir dämmert, dass das was mit Gotthold Ephraim Lessing zu tun hat. Typischer Fall von Selbstüberschätzung! Hier hat halt mal ein Dichter gelebt, der selbst Deutschlehrern nicht mehr sofort einfällt, wenn sie große deutsche Literaten aufzählen sollen.
Ich wandere durch die Stadt und staune: Hier werden nicht nur versunkene Schriftsteller am Leben gehalten, man scheint auch bereit zu sein, das Erbe einer versinkenden Kulturmetropole anzutreten. „Klein Venedig“, so lese ich in der Stadt, die zweifelsohne etwas Wasser zwischen Häusern zu bieten hat. Venedig? Mehr ging wohl nicht?
Die sind hier doch größenwahnsinnig, denke ich noch, als mir der Klimawandel einfällt. Wie war das? Der Meeresspiegel steigt?
In wenigen Jahren wird Venedig, Italien, versunken sein – und dann kommt Wolfenbüttel ins Spiel, ist sich das Stadtmarketing offenbar sicher: Was Venedig den Untergang beschert, wird Wolfenbüttels Auftrieb. Vorausschauend hat die Stadt die Hinweisschilder schon mal zweisprachig aufgestellt: „Big Canal“, lese ich da und schaue auf die Hängegeranien der Hinterhofbalkone über dem geschätzt 100 Meter langen Wasserarm. Aber wie heißt es so schön: ohne Visionen keine Zukunft.
Ich schließe die Augen und sehe das erste Kreuzfahrtschiff auf der Oker vorbeiziehen und hinter der Bundesakademie in der Schünemannschen Mühle andocken.